PIANO

Sorgfältig studierte sie ihr Gesicht im Handspiegel. Dann trug sie ihren Lippenstift auf und wandte sich endlich, samt dem Stuhl, dem Fenster zu, hinter dem sich bereits mehrere Personen angestellt haben.
Der erste Mann in der Reihe, mit gräulichem Kurzhaarschnitt und quadratischem Gesicht, hielt ein abgenutztes Buch durch den kleinen Bogen des Glasfensters.
„Können Sie etwa nicht lesen oder was?“ Die Stimme des Mädchens war unerwartet tief. „Wir akzeptieren hier keine Stromrechnungs-Quittungen!“
Mit der Spitze ihres Stiftes tippte sie auf die Trennwand, auf der die Anmerkung in Weiß stand.
Der quadratische Mann wollte eigentlich seine Stimme erheben, doch hat sich nach einem halben Seufzer dagegen entschieden, seine Quittungen in einem großen ledernen Ordner versteckt und sich langsam in Richtung Ausgang begeben.
Als er aus der Bank ging, zögerte er an der Kreuzung, bestach eine Zigarette bei einem Passanten und bog rechts ab.
Der Name dieses Mannes war Nikolai Ivanovich Kulakov, er war pensionierter Oberstleutnant und überzeugter Junggeselle. Dank militärischer Kleidung und einem vernünftigen Lebensstil gelang es Kulakov mit seinen 53 Jahren eine hervorragende Gesundheit zu bewahren, er sah um mindestens sieben Jahre jünger aus, was ihm eine bekannte Dame oft sagte.
Nach seiner Pensionierung ließ Kulakov sich in seiner Heimatstadt nieder, im Zimmer seiner verstorbenen Tante, die den Jungen großzog nachdem er seine Eltern im Krieg verlor.
Außer ihm lebte noch jemand in der Wohnung – die energische kleine alte Dame Zoya Pavlovna.
Das Haus war alt, mit Stuckleisten an hohen Decken, Marmortreppen und breiten Balkonen. Vor dem Haus knarrte es gemütlich. Aus irgendeinem Grund, so schien es Kulakov, wurde dieser Ort von allen Stadtkrähen ausgesucht.
Nikolai Ivanovich arbeitete in der Personalabteilung des Designinstituts, und mit Beginn des Frühlings war das Aufwachen zur Arbeit für ihn jeden Morgen mit ohrenbetäubendem Geschwätz verbunden.
„Krrä Krrä Krrä!“ – schon seit sechs Uhr morgens verstummte es nicht vor dem Fenster. Erfolglos versuchte er die Krähen zu verscheuchen, indem er mit seinem Gewehr in die Luft schoss, stellte diese Versuche jedoch ein, nachdem die zu Tode verängstigte Zoya Pavlovna einst die Polizei rief, da sie diese Krähenexekution als eine Schießerei von Banditen hinnahm.
Nun überquerte Nikolai Ivanovich die Straße, auf dem Weg nach Hause, von der Arbeit kommend. Er beschloss sich auf eine Bank zu setzen, um eine weitere Zigarette zu rauchen.
„Ich muss ein neues Feuerzeug kaufen“, dachte er sich und schaute auf die Spitzen seiner Stiefel. – „oder noch besser, ich könnte mit dem Rauchen aufhören, vielleicht ab nächster Woche… Ja und am Montag muss ich noch die Miete zahlen.“ Und plötzlich erinnerte sich Kulakov an seinen Traum. Er träumte nachts schon lange nichts mehr, weshalb ihm dieser Traum besonders seltsam vorkam. Und geträumt hat Nikolai Ivanovich von seiner verstorbenen Tante in einem schwarzen Seidenkleid, die begeistert auf einem runden Hocker hinter einem riesigen Konzertflügel schwankte. Ihre Finger tanzten über die Tasten, ohne dabei einen einzigen Ton aus dem Instrument zu bringen. Dann, nach einem scheinbar kraftvollen Schlussakkord, ließ sie ihre Hände auf die Knie fallen und fing an sich wie eine alte Dame über etwas zu beklagen. Es schien Kulakov so, als würde sie ihm etwas vorwerfen, doch im Traum konnte er nur folgende Worte erkennen: „Wie kann das sein, wie, wie, wie…“, hier wachte Kulakov auf.
„Krrä, Krrä, Krrä!“ – im Chor ihrer Worte klang es vor dem Fenster. „Ich sollte zum Friedhof gehen.“ – interpretierte Nikolai Ivanovich aus seinem Traum. „Drei Jahre war ich schon nicht mehr dort. Wahrscheinlich ist das Grab schon ganz zugewachsen.“ Kulakov erhob sich von der Bank, klopfte seine Hose ab und begab sich zum Eingang seines Hauses. Aus dem Schlitz seines Postfachs guckte die Ecke einer Zeitung raus. Briefe bekam er nie, und die Zeitung hat er ausschließlich wegen des TV-Programms abonniert.
Im Gemeinschaftskorridor zog er vorsichtig seine Stiefel aus, hing seinen Mantel am Kleiderständer auf und, beim Einziehen des Geruchs von gebratenem Fisch aus der Küche, trat er in sein Zimmer.
Seine Gewohnheit an Ordnung und das Regime machte das Leben von Nikolai Ivanovich nach seinem Rücktritt ausgeglichen und ruhig. Die Einsamkeit störte ihn nicht und Abende wirkten nie langweilig oder eintönig.
Er mochte keine unvorhersehbaren Zwischenfälle. Ein solches Ärgernis war für Kulakov neulich der Ausfall des Fernsehers, was Umformungen an die übliche abendliche Freizeit mit sich brachte. Der Techniker versprach, nicht vor nächster Woche die benötigten Lampen zu besorgen, um eine Reparatur durchzuführen, und Kulakov verzog sich unwillkürlich bei der Feststellung, dass er noch ein paar Abende ohne den gemütlichen, nun blau leuchtenden Bildschirm verbringen musste.
Im Kühlschrank stand ein Topf der gestrigen Suppe mit einzeln schwimmenden Hühnchenstücken, ein Glas Honig und ein Stück Butter.
„Ich habe vergessen Wurst zu kaufen“, erinnerte Kulakov sich lustlos, während er die Suppe zum Aufwärmen trug. In der Küche klirrte Zoya Pavlovna mit dem Geschirr. Was auch immer sie in ihre pingeligen faltigen Hände nahm, zerbrach, fiel zu Boden, zersplitterte in tausend kleine Teilchen – so viel Energie steckte sie in einfache Haushaltsaufgaben. Die Stimme der alten Frau war eher durchdringend als laut, sie redete schnell und machte zwischendurch viele Pausen, um nach mehr Luft für den nächsten Satz zu schnappen. Mit ihren 78 Jahren arbeitete sie immer noch als Ticket-Verkäuferin im Opern- und Balletttheater und betrachtete sich selber daher als große Kunstkennerin.
Der Boden unter dem Herd war mit Mehl bedeckt, also musste Kulakov sein Bein, beim Aufstellen des Topfes auf den Herd, anheben, um seine Pantoffeln nicht in den weißen Staub zu treten.
„Kolya, schau nur“, Zoya Pavlovna legte einen in Mehl gebadeten Fisch in die Pfanne „letzte Woche hat der gleiche Karpfen halb so viel gekostet. Diese Preise werden mich noch ins Grab treiben! Du kennst doch meine Leber, mein Lieber – Diät, Diät! Ein bisschen vom gebratenen Fisch ist denk ich manchmal in Ordnung. Und diese Nacht taten die Nieren so weh, dass schon die Steine herauskamen. Und Zucker, ich habe solchen Zucker, das kannst du dir gar nicht vorstellen! Heute in der Klinik…“, Kulakov schaute neidisch auf die brutzelnde Pfanne der Nachbarin und dachte daran, dass er immer noch gesund war, Gott sei Dank, alle Zähne die Eigenen, Magen und Leber –Klopfer auf Holz, schläft wie ein Baby. „Zoya Pavlovna“, unterbrach er seine Nachbarin „Können Sie vielleicht Träume deuten? Ich habe letzte Nacht etwas Seltsames in meinem Traum gesehen: mein Tantchen am Klavier… sie konnte doch nie spielen!“ Das stimmt, Kulakov’s Tante arbeitete ihr ganzes Leben lang als Verkäuferin in einer Bäckerei und ihre Verbindung zu einem schwarzen Konzertflügel schien ziemlich nebelhaft. „Prophetischer Traum, Kolyalein“, (Zoya Pavlovna erinnerte sich an Nikolai Ivanovich als er noch ein kleiner Junge mit aufgerissenen Knien war und nannte den pensionierten Oberstleutnant deshalb beim Spitznamen.) „Deuten kann ich nicht, aber ich weiß, dass die Träume in den Nächten von Donnerstag auf Freitag immer in Erfüllung gehen. Ich habe mal…“ Kulakov hörte sich diesen Monolog nicht an, nahm die kochende Brühe vom Herd, stellte einen Kessel auf den Brenner und ging nachdenklich vor sich hin, zurück in sein Zimmer.
Nach dem Abendessen setzte er sich auf seinen Sessel am dunklen Fenster und schlug die Zeitung auf. Als Nikolai Ivanovich die Ankündigungen auf der letzten Seite erreicht hatte, die er normalerweise nicht las, seufzte er, schaltete die Stehlampe ein und las weiter. „Tausche…Suche…Verkaufe…“ – Die Ankündigungen gaben Informationen des Privatlebens anderer Leute preis, womit Kulakov nichts zu tun hatte. Letzteres war ebenso prägnant, aber etwas anders als die anderen: „Verkaufe ein Klavier. Jederzeit erreichbar. Fragen Sie nach LyaLya.“, und in kleiner Schrift darunter stand die Telefonnummer. Kulakov hob diese Anzeige hervor, weil sie irgendwie unbewusst mit seinem Traum verbunden war, mit dem warmen Aprilabend und der ruhigen Dämmerung des Raumes, von dem er als Kind jede Ecke erkundete.
Die Raumdekoration hat sich seit vielen Jahren nicht verändert: eine massive Kommode, ein Schminktisch, ein runder Esstisch in der Mitte des Raumes und drei harte Stühle waren von seiner Tante übrig geblieben. Nur das Schlafsofa hatte er ein Jahr zuvor gekauft und die aufklappbare Couch der schmalen Tante weggeworfen. Selbst den grellen Teppich, der nicht gerade ein Kunstwerk war, begann Nikolai Ivanovich nicht von der Wand zu entfernen. Der Teppich hieß „Tarantella“ und zeigte eine Gruppe belustigter Italiener in einem Abendgarten. Eine Tänzerin erstarrte in der Mitte der Komposition – kleine Schuhe, Armbänder, ein flatternder roter Schal. Der Teppich brannte mal, wodurch das Bild verrieben wurde, aber aus irgendeinem Grund beeilte Kulakov sich nicht damit ihn wegzuwerfen, im Gegenteil, wenn er ins Bett ging schaute er oft auf die farbenfrohe Gesellschaft, die ihm realer und näher erschien als die Menschen, mit denen er am nächsten Tag arbeiten und kommunizieren musste. Nikolai Ivanovich streckte die Hand aus und bewegte seinen Finger über die weichen schwarzen Konturen der Figuren, streichelte die schwarzen Haare der Tänzerin und seine Gedanken waren irgendwo weit weg. An diesem Abend ging er früher als gewöhnlich ins Bett und konnte lange Zeit nicht schlafen, einige vage Bilder schwebten in seinem Kopf auf sobald er die Augen schloss: ein flatternder durchsichtiger Vorhang, eine Marmortreppe, die in Eisenbahnschwellen überging, ein Fenster mit zerbrochenem Glas –inkohärent aus dem Alltag herausgerissene Gegenstände. Beim Einschlafen fühlte Kulakov einen Stich im Herzen und ertrank in dem Gedanken, dass morgen Samstag war und er morgens einen Spaziergang ans Meer machen musste.
Der „Weg der Gesundheit“ erstreckte sich über mehrere Kilometer entlang des Meeres. Auf der einen Seite gab es Strände und ein Erholungsgebiet, auf der anderen Seite sah man sanfte Hänge, die mit Sträuchern bewachsen waren.
Kulakov schritt die fleckige Asphaltstraße entlang, schloss die Augen zur Hälfte und lauschte dem Rauschen des Meeres. Es war trocken, warm und bewölkt. Eine verlassene Gasse, gefrorene Kanten am Straßenrand, ein eintöniger Wellenschlag – die umgebende Natur schien Kulakov falsch zu sein, losgelöst von sich selbst, von dem Rumpeln in seinem Magen, dem Schlag seines Herzens und dem Knistern seiner Gelenke. Er schluckte seinen Speichel und plötzlich überkam ihn ein unangenehmes Gefühl der Unbehaglichkeit. Er fühlte sich wie aus dem Leben gerissen. Selbst, gesund und stark, immer noch ein Mann mit vorherrschenden Neigungen und Gewohnheiten, der nie zuvor sein Selbstbewusstsein verloren hatte. Er wollte den Geschmack dieses distanzierten, lauten Lebens um sich herum spüren, nicht darauf treffen. Er wollte etwas tun. Eine bedeutungslose Handlung, um sich von der Seite in dieser riesigen Flasche zu betrachten, hinter deren Glas sich das Meer, Bäume, Krähen, ein wütendes Mädchen von der Bank und ein alter Teppich über einem Sofa befanden.
„Vielleicht sollte ich mir einen Hund zulegen“, dachte sich Kulakov bei dem Versuch sich von dem neuen und nervigen Gefühl abzulenken. „Nein, das ist ausgeschlossen, meine Geschäftsreisen… im Herbst muss ich in die Karpaten reisen…“ Er konnte sich nichts einfallen lassen, ihm kam nur Unfug in den Sinn und aus irgendeinem Grund erinnerte er sich wieder an seinen Traum. „Morgen, morgen gehe ich zum Friedhof.“
Kulakov kehrte schlecht gelaunt nach Hause zurück und stellte fest, dass er wieder nichts zum Abendessen gekauft hatte. Er schnitt das Brot in Scheiben, das er zwei Tage zuvor gekauft hatte und das bereits seinen Geschmack verlor und beschmierte es mit Honig zum Tee. Er tastete automatisch nach der Zeitung, die auf der Tischdecke ausgebreitet war, damit er keine Krümel aufsammeln musste. „Klavier…fragen Sie nach Lyaya.“ LyaLya, so hieß ein kleines Mädchen mit dünnen Beinen aus dem ersten Stock, das eine weibliche Stimme jeden Abend vom Hof nach Hause rief.
Am frühen Morgen des nächsten Tages besuchte Kulakov seine Tante auf dem Friedhof und stellte sogar eine Kerze in die Kirche, um sich zu beruhigen, obwohl er kein Gläubiger war. Um elf Uhr wählte Nikolai Ivanovich ausgeglichen LyaLya’s Nummer. Er handelte soldatisch und bereits am Abend stand eine schwarz polierte Schachtel in seinem Zimmer, mit gegossenen Kandelabern auf dem Deckel und nahm den Raum zwischen dem Fenster und dem niedrigen Schminktisch ein. Die Einholung der Zustimmung war nicht schwer – LyaLya saß auf gepackten Koffern und warf, erfreut über einen so schnellen Käufer, sofort ein paar Hunderter ab.
„ICH HABE EIN KLAVIER GEKAUFT. Ich. Habe. Ein. Kla-vier. Ein Pi-a-no. Gekauft. Ich.“ – Die Worte flogen durch Kulakov‘s Kopf, er fühlte sich ruhig und sogar fröhlich über das neu zurückgegebene Selbstwertgefühl.
„Für die Wohnung werde ich nächsten Monat zahlen.“, entschied er und stellte beim ins Bett gehen aus irgendeinem Grund den Wecker, was völlig unnötig war, weil er bereits seit zwanzig Jahren aus Gewohnheit genau um halb sieben aufwachte.

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The Man Who Thought He Was Dead